Das ideale Atelier

Frank Dömer, 1994

Strand

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Es muß im Jahre 1989 gewesen sein, als mir ein Kollege erklärte, die Traumvorstellung seines Künstlerdaseins wäre es, eine Art Handlungsreisender in Sachen Kunst zu sein. Ihm genüge ein Aktenkoffer, der Rest sei in seinem Kopf und für den lästigen Papierkram reiche ein Büro mit einer Sekretärin. Sein Atelier hatte er gerade aufgegeben.
Andere, z.B. van Gogh, litten ihr ganzes Leben unter der Tatsache, nicht einen wirklichen Platz zu haben. Natürlich gab es immer Raum, aber der war mehr geborgt, sozusagen auf Zeit geliehen. Was van Goghs gesamte Lebenserfahrung betrifft und ihn nicht daran hinderte, in einem alten Schuppen in Arles täglich mehrere Bilder zu malen. Ja, wahrscheinlich mußte dies sogar so geschehen, aufgrund des Bewußtseins von der knapp bemessenen Zeit.
Cezanne arbeitete am liebsten im Freien, denn dort konnte er noch am ehesten dem eigenen Entsetzen über die Bilder entfliehen. Die Legende von den im Wald auf einer Lichtung zurückgelassenen Bildern geistert noch heute durch die Köpfe und manchmal, zu bestimmten Tages- und Lichtzeiten, kann man sie in den Wäldern rund um den Montagne Sainte-Victoire sehen, wie sie auf ihren Staffeleien stehen und geduldig auf die Rückkehr des Meisters warten. Cezanne hatte auch seine Ateliers, wie z.B. das letzte in Aix. Eine hohe dunkle Kammer, die er selbst entworfen hatte, die aber mehr den Eindruck eines Gefängnisses machte, erbaut zu dem Zweck, die Außenwelt auszusperren. Doch da war er ja auch schon alt und hatte sicherlich die Hoffnung aufgegeben, diese Welt zu seiner machen zu können.
Zwei andere, die ebenfalls die Abgeschiedenheit hoher Räume brauchten, um die großartigsten Ansichten von Licht, Natur und Lebendigkeit erfahrbar zu machen, waren Joseph Mallord William Turner und Caspar David Friedrich.
Der erste ließ sich während eines Sturmes auf hoher See an einen Mast auf Deck binden, um das Tosen der Elemente in sich aufnehmen zu können. Das Unwetter glücklich überstanden und heimgekehrt in die ureigenste Malerhöhle, setzte er die Eindrücke um in Farbe und Pinselstriche und malte den „Snowstorm“ (1842); ein Bild, welches die Kritiker seiner Zeit („Seifenlauge und Tünche“) mehr erschreckte als beeindruckte. Für Turner, von dem es heißt, er habe noch eine halbe Stunde vor Eröffnung einer Ausstellung, mit Spachtel und Pinsel bewaffnet, einige Vollendungen an seinen Bildern vorgenommen, bedeutete das Atelier so etwas wie ein sicherer Hafen, in dem er den wilden, ungebärdigen Vorstellungen und Trieben seines Geistes und seiner Augen zwar gewaltige, aber erfahrbare Formen geben konnte.
Friedrich, der gewissenhafte Planer der Romantik, benötigte ebenfalls nur geringen Raum, um seine großartigen Panoramen lebendig werden zu lassen. Bei ihm jedoch konzentriert sich alles auf eben diesen Raum. Hier entsteht die Idee, es folgt die Planung, die Anlage, und hier wird schließlich auch das Bild gemalt. In einer Art archetypischer Konzeptualität wird auf dem Weg von der Idee zur Realisation des Bildes jeder Schritt und jeder Pinselstrich festgelegt. Notwendigerweise gebunden an einen feststehenden Ort; das Atelier. Der Wanderer im Nebel wird niemals die Möglichkeit haben, sich zu verirren, ja, er würde es nicht einmal versuchen können.
Dann gibt es Gauguin, den Erdumfasser. Er hat wahrscheinlich stets die wenigsten Probleme gehabt mit dem drinnen und draußen. Nicht verwunderlich, denn eine Südseeinsel, mit Himmel als Dach, kann ein adäquater Ersatz für einen geschlossenen Raum sein, vorausgesetzt, man hat nichts gegen das ewige Rauschen des Meeres, den Sand in der Farbe und kann sich im Angesicht nackter, fröhlicher Mädchen dazu bringen, sich mit dem doch eher quälenden Handwerk der Malerei zu beschäftigen.
Im Gegensatz dazu brauchte der extraordinäre Alleszauberer Picasso natürlich seine Räume, auf festem Grund und Boden. Nicht nur zum Arbeiten, zum Lieben und Leben, sondern vor allen Dingen als Ort für seine Trophäensammlungen. Das Atelier Picassos ist immer der Ort der Selbstinszenierung, ein wenig Theaterbühne und Hexenküche zugleich, aber immer noch die Werkstätte, der Ort, wo Geist und Hand sich begegnen, um etwas zu schaffen.
Andy Warhol, der Alleszerstörer, -Verwender, -Verteiler, -Kopierer, Andy Warhol erst machte aus der heiligen Kammer ungezählter Künstlergenerationen das, was sie früher schon einmal war, in Ägypten etwa, vor ca. 3000 Jahren oder bei Rembrandt im 16. Jahrhundert, die moderne Werkstatt oder Fabrik, mit all den Errungenschaften der Industriellen Revolution, wie etwa: Ausbeutung einzelner, Fließbandarbeit, Identitätsverlust. Aber, die ,,Factory“ ist natürlich das genialste all seiner Kunstwerke überhaupt. Die Konzentration, Bündelung und Umsetzung der Ideen und Fähigkeiten vieler durch eine Person ist nur zu vergleichen mit dem Bau der Pyramiden im Ägypten zur Zeit des Alten Reiches oder dem Ausmalen der Sixtinischen Kapelle in Rom.
Andy Warhol in einem Raum mit weißen, hohen Wänden und Licht von Norden ist eine unsinnige Vorstellung, und wäre so, als würde man Joseph Beuys gezwungen haben, sämtliche Installationen an einem Ort zu realisieren. Für seine Arbeit, die notwendigerweise an die Orte ihres Entstehens gebunden ist, benötigte er das Atelier sozusagen als Energiespeicher. Als Depot für Ideen, die dann den jeweiligen Orten, Gegebenheiten und Situationen zugeeignet, realisiert wurden.
Die Arbeitsräume Anselm Kiefers, als Beispiel eines noch tätigen Gegenwartskünstlers, vergrößerten sich im Zuge des Anwachsens seiner Bildformate und Projekte direkt proportional, bis ins Gigantische. Was irgendwann in einem alten Schulgebäude begann, endete vorläufig auf dem riesigen Areal eines ausgemusterten Fabrikgeländes. Steigerungen scheinen da noch möglich, zumal das geplante Projekt zwischen Euphrat und Tigris noch nicht abgeschlossen ist.
Andere sind alt geworden, mit und in ihren Ateliers. Lucian Freud in London, Emil Schumacher in Hagen oder Georg Baselitz in Derneburg. Und falls sie nicht eines Tages in all den Farbschichten, die sie ihr Leben lang angehäuft haben, versinken, werden sie, wie zu hoffen steht, dort auch noch eine Weile weiterschichten. (Lucian Freud verstarb leider 2011und Emil Schumacher schichtete nur bis 1999…)
Eine kleine Fiktion sei zum Schluß erlaubt; das ideale Atelier sieht so aus:
ein bißchen Südsee, mit vielen Wänden und Fenstern, irgendwo ein Ausgang, wenn man alles nicht mehr sehen kann, viele Nägel, damit man aufhängen kann, was man will (Muscheln oder so), eine große „Factory“, die vor allem dieses lästige Kaffeekochen, Bierholen, Pizzabestellen, Pinselauswaschen usw. übernehmen kann (am besten Freiwillige, die umsonst arbeiten), das ganze 3 km lang, 4 km breit und etwa so hoch wie der Himmel, natürlich frisch renoviert und im Winter warm, ganz viele lächelnde, braungebrannte, halbnackte, glückliche Menschen, mit schwarzen Augen und Haaren, eine Bar um die Ecke, ein Zigaretten- und ein Geldautomat, und ganz wichtig: kein Bett! Denn – geschlafen wird nicht!
Dieser Text erschien 1994 in:
„Die Voraussetzungen der Malerei“, Band 1 Herausgeber: Michael Huth, Breiten-Güßbach

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