The good and the bad end

43 Zeichnungen von Frank Dömer

GoodBadEnd

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Verschwinden und dann Wiederauftauchen
Am Anfang dieser kleinen, im Jahre 1990 entstandenen Reihe von Papierarbeiten stehen Kinderzeichnungen meines Sohnes. Diese ersten fünf Blätter waren der Ausgangspunkt für eine zeichnerische Auseinandersetzung über Abstraktion und Gegenständlichkeit. Aus den ersten Arbeiten entstanden Überzeichnungen und Fortschreibungen, die sich in Reaktion zueinander mäandernd durch das ganze Konvolut schlängeln. Erinnerungen und Verschiebungen, Verwischungen und Erleuchtungen.
Klärungen. Es tauchen Gestalten auf, Gegenstände, Situationen, Landschaften, Traumbilder. Die Motive verdichten sich, lösen sich auf und verwirbeln.

Folgen die Zeichnungen zu Beginn noch den Vorlagen, so wird ab dann verstärkt bildnerisch eingegriffen. In die zufällig und ungeordnet erscheinende Struktur der Blätter schleichen sich, plötzlich auftauchend und verschwindend, lange Beine, High Heels, kurze Röcke und Fragmente von etwas. Später tauchen dann die dazugehörigen Modelle auf. Wie aus dem Katalog bestellt, entstehen sie innerhalb eines immer wilder werdenden Gewirres aus Linien und Strichen, um kurze Zeit später sich zerstreuend und verwandelnd als Apfelbaum neue Gestalt anzunehmen. Der Baum wiederum löst sich danach in rein abstrakte Strukturen auf. In der Wahrnehmung jedoch, so man dem beschriebenen Verlauf folgt, bleibt auch die abstrahierte Form ein Apfelbaum. Für die Wahrnehmung gibt es die Unterscheidung zwischen Abstraktion und Figürlichkeit hier nicht mehr.

Der Entstehungsprozess der Blätter basiert dabei auf dem Prinzip des gelenkten Zufalls*. Eine Zeichnung reagiert auf die Vorhergehende und bildet den Ausgangspunkt für die Folgende. Während der Arbeit an einem Blatt liegt das nächste darunter und dazwischen Kohlepapier. Durch den Druck des Zeichenstiftes werden so Teile der entstehenden Zeichnung an das darunterliegende Blatt weitergegeben, abhängig von der Stärke des Drucks mehr oder weniger stark und deutlich. Da es sich um einen relativ dicken Zeichenkarton handelt, entsteht aber keine Kopie der Ausgangszeichnung, sondern nur ein schwach wahrzunehmender Schatten. Dieser bildet den Ausgangspunkt für die nächste Zeichnung.
Die nächste Arbeit kann jetzt direkt auf das Vorgefundene reagieren, oder eine völlig neue Richtung einschlagen, welche jedoch inhaltlich im Kontext der gesamten Serie erhalten bleibt. Die Richtung, in die sich die jeweilige Zeichnung entwickelt, wird dabei immer von der Vorgabe geleitet, wie sich die Teile auf dem einzelnen Blatt zu einer in sich stimmigen Komposition fügen. Dicke schwarze Striche können ein wichtiges Element sein, um das Auge des Betrachters anzuziehen. In der nächsten Zeichnung können sie den Blick auf eine neu entstehende Struktur oder ein neues Element vorbereiten. So entstehen zum Beispiel Landschaften, in denen sich Figuren oder Gegenstände finden. Die gezeichneten Gegenstände, Landschaften oder Figuren „werden dabei additiv gesetzt, eine eindeutige Bedeutungszuweisung bleibt offen.**Boot

Die Zeichnung des in der Mitte des Buches auftauchenden Bootes, welches einige Seiten später in einem Strudel zu verschwinden scheint, hat also kein dramatisches Ereignis als Ursache, sondern ist Folge der vorausgehenden Zeichnung. So entstehen Zeichnungen, die autark und selbstständig gelesen werden können, die sich aber durch ihr Werden und den Entstehungsprozess zu einer Abfolge oder Gruppe von Blättern vereinen, ohne narrativ zu werden.

Aus diesem Grunde erscheint es folgerichtig, wenn sich auf einigen Blättern jede Gegenständlichkeit verliert und Abstraktionen Platz macht. Dabei werden aber Form und Struktur bewahrt, aus deren Anlage einige Seiten weiter neue Figürlichkeit entstehen kann. Es geht demnach in allen Blättern immer um die Zeichnung an sich, ihre Form und Struktur, das Schwarze, Weiße und die Grautöne.

Dass sich die Arbeiten besonders in der vorliegenden Buchform trotzdem als ‚Geschichte’ lesen lassen, liegt in ihrer Entstehung und der seriellen Abfolge begründet. In einem relativ kurzen Zeitraum von drei Wochen zu Papier gebracht, zeigen sie eine fortlaufende Entwicklung aus dem Vorangehenden. Zugleich entsteht in jeder Zeichnung etwas Neues, das auf das nachfolgende Blatt verweist. Das Arbeiten an einer Zeichnung beinhaltet, neben der Konzentration auf sie selbst auch den Blick zurück und voraus. Im Prinzip kann man das Buch also vorwärts wie rückwärts lesen, und obwohl keine erzählerischen Momente Spannung erzeugen, möchte man wissen, wie es auf der nächsten Seite weitergeht.

Der Titel des Buches geht ebenfalls auf diese Dualität der Sehweise zurück. Das gute Ende, das „Happy End“, gibt es ebenso wie das schlechte Ende oder den bösen Ausgang nie als singuläre Ereignisse. Zumeist treten sie gemeinsam auf und variieren nur in der jeweiligen Wahrnehmung von Betroffenen und Betrachtern. Der Versuch, die Dinge vom Ende her zu denken, kann ebenso oft scheitern wie das impulsive Drauflosstürmen. Es kann immer ein gutes und ein schlechtes Ende geben, oder das Gute und das Schlechte können enden. „Es stimmt immer alles (nicht).***

Die Entscheidung, diese Zeichnungen gute zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung noch einmal in Buchform herauszubringen, hat mehrere Gründe.

Zum einen haben sie für mich nichts von ihrer Aktualität verloren. Zum anderen haben sich in den letzten zwanzig Jahren die Möglichkeiten zur Buchproduktion so dramatisch verändert, dass es heute einfacher geworden ist, ohne Rückgriff auf große oder kleine Verlage Projekte zu verwirklichen, die 1990 schlichtweg unbezahlbar waren.

Darüber hinaus sind die Arbeiten in diesem Buch für mich persönlich von großer Bedeutung. Sie sind natürlich aufgeladen mit den Ereignissen im Jahr ihrer Entstehung. Einundzwanzig Jahre nach der Geburt meines Sohnes und der deutschen Wiedervereinigung hielt ich es einfach für einen guten Zeitpunkt, mich jetzt wieder mit den Bildern von ‚damals’ zu beschäftigen. Außerdem sind sie eine stete Erinnerung an die Unterstützung durch einen meiner wichtigsten Förderer, ohne dessen Teilankauf dieses Konvolut wahrscheinlich nicht mehr in seiner Gesamtheit erhalten wäre.

Nicht zuletzt sind die Zeichnungen eine ganz augenscheinliche Metapher für das Leben in dieser Zeit: Man muss immer auch nach vorne und zurückschauen, um eine Geschichte zu verstehen.

Anmerkungen: * Gelenkter Zufall: der Prozeß des Malens, Felix Thürlemann, 1992, in: W. Fähndrich (Hrsg.), Improvisation, Winterthur 1992, S. 63-73, URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2008/440/ 
** aus: „Frank Dömer, Public Enemy“, Frankfurt am Main, 1993, von Susanne Lange
*** aus: „Frank Dömer, Malerei“, Frankfurt am Main,1990, mit einem Text von Ulrich Willmes